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ERKENNTNISWEG UND WAHRHEITSZIEL

ERKENNTNISWEG UND WAHRHEITSZIEL

Im Unterschied zum wissenschaftlichen System der Philoso- phie vermag es die Musik – und zwar die durch schöpferische Interpreten dargebotene urklassische Musik –, den einzelnen zu einer Verkörperung der Wahrheit zu machen, zu einem wirklich Weisen, zu einem freien Menschen. Dabei zeigt die Musik dem Wahrheitssucher das Potential der Wahrheitserkenntnis plastisch auf und versetzt ihn – erst für begrenzte Zeit und schließlich immer längerwährend – über die Wahrheitserkenntnis in den Zustand der Wahrheitsverkörpe- rung. So führt sie ihn mit Hilfe der innermusikalischen Logik in die Erfahrungswelt des Weisen, der die Wahrheit lebt. Die Musik vermittelt so die Erfahrung aller Vorteile, welche die Wahrheitserkenntnis mit sich bringt, und so bewirkt die klassische Tonkunst unter anderem die Erfahrung des voll- kommenen innersten Lebensglücks, die Erfahrung der unein- geschränkten Lebensbejahung und das totale Musikerlebnis umfassender Einsicht in die wahre Funktionsweise der Natur. Ja, darüber hinaus vermittelt Musik das Erlebnis der allgewaltigen Schöpferkraft. Dem Menschen der letzten Jahrtausende vermochte das konventionelle wissenschaftliche Philosophiesystem in Wort und Schrift – seiner Natur nach, in seiner Konstellation des Bedeutunglesens – nur den Erkenntnisweg des Verstandes zu beschreiben, woraus deshalb die Vielfalt der philosophischen Systeme entsprang und auch noch immer neue Vielfalten sich auftun. Die solcher Vielfalt zugrundeliegende Einheit läßt sich aber mittels der herkömmlichen Schrift und mit Hilfe des heutigen Wortbegriffs nicht erschließen. Denn weder das gesprochene Wort noch die gedruckte Schrift vermögen es, das Gefühl vollständig anzuregen und zu erwecken. Doch streben alle großen Philosophen nach der Einheit der Weltbetrachtung, und sie wählten hierfür, soweit sie mit der Bedeutung der Worte operierten und somit umschreibend tätig waren – wie widersinnigerweise –, das für die Einheitserkennt- nis ungeeignetste Mittel, dasjenige der verstandesmäßigen Erörterung in Wort und Schrift. Die großen Dichter beachten – von der Bedeutung des Wortes ausgehend – wesentlich stärker den Wortklang als die mit Bedeutung operierenden Philosophen und rücken der gefühls- mäßigen Erkenntnisgewinnung dadurch näher als diese. Denn der Klang, die rhythmische Struktur und die melodische Entwicklung des Wortes sind wesenhaft dazu bestimmt, das Gefühl anzusprechen – und zwar im Fluß der Zeit, also als ein dynamischer Vorgang. Die Bedeutung eines Wortes vermag beim heutigen Men- schen und sicherlich beim Menschen der letzten Jahrtausende das Gefühl leider nicht unmittelbar anzuregen, denn ihr fehlt rein physikalisch die dynamische Kraft. Somit stützt sich das herkömmliche System der wissenschaftli- chen Philosophie in seiner Erkenntnisgewinnung praktisch ausschließlich auf das intellektuelle Differenzierungsvermö- gen des Verstandes und führt deshalb als System wesenhaft zur Vielfalt, niemals jedoch zur Einheit. Die Musik geht hier einen doppelten Weg gleichzeitig: Wie das herkömmliche System wissenschaftlicher Erkenntnis- gewinnung, so beschreibt die Musik in ihren verschiedenen musikalischen Kräftefeldern die Differenziertheit der Formen und Phänomene der Natur – der objektiven im musikalischen Tonraum, der individuellen in den Motivräumen, der sozialen in den Sequenzräumen – und die integrierte Gesamtheit aller differenzierten Phänomene im unendlichen Raum der Harmonie. Gleichzeitig jedoch mit der differenzierten Beschreibungs- weise von Fakten präsentiert die Musik einen lückenlosen, dynamischen Prozeß, in welchem jene Fakten geschaffen, umgewandelt, immer wieder neugestaltet und schließlich auch wieder zum Vergehen gebracht werden – und zwar auf allen Ebenen der musikalischen Beschreibung.

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